Ich hab mir vorgenommen, einige der Bücher zu lesen, die auf der Longlist für den Selfpublishing-Buchpreis 2022 stehen. Eins davon ist die Dystopie (oder Utopie?) „Als wir verschwanden“ von Johanna Wolfmann, die in der Kategorie Belletristik nominiert ist. Erzählt wird eine postapokalyptische Geschichte, in der sehr viele wichtige, gesellschaftliche Fragen diskutiert werden.

Johanna Wolfmann
Als wir verschwanden
ISBN: 978-3-347-36691-6
Veröffentlichungsdatum: 11.08.2021
Seiten: 580
Veröffentlicht bei: Tredition
Worum geht’s?
Die Geschichte erzählt von der wohlhabenden Naturwissenschaftlerin Anna Berger, die auf der Yacht ihres Bruders zu sich kommt und feststellen muss, dass ihre Begleiter verschwunden sind – darunter ihr geliebter Bruder und ihr Freund. Natürlich sucht sie zunächst eine logische Erklärung dafür zu finden, bis sie schließlich feststellen muss, dass die Welt beinahe menschenleer geworden ist. Einige Überlebende findet Anna doch, begibt sich mit ihnen auf einen Roadtrip durch ein verlassenes Europa und nach und nach kommt sie hinter die unglaubliche Ursache des plötzlichen Verschwindens ihrer Mitmenschen.
Wie war’s?
Gleich zu Beginn hat mich Johanna Wolfmanns Beschreibung der plötzlich einsamen, aus ihrem Alltag herausgerissenen Anna gefesselt. Denn obwohl Anna zunächst lange Zeit allein bleibt, schildert sie deren Verunsicherung, Sorge, ihre Gedanken zwar sehr detailgenau, aber auch unglaublich plastisch und anschaulich. Anna führt mentale Selbstgespräche mit Personen, die in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt haben und nun nicht mehr da sind. Deren Meinungen stehen wie Gegenpole für Annas eigene innerliche Zerrissenheit.
Auch später fand ich die Schilderungen der menschenleeren Dörfer und Städte unglaublich faszinierend – und gruselig zugleich. Was wäre, wenn plötzlich niemand mehr da und noch dazu der Strom weg wäre?
„Lukas hat recht, dies hier ist kein freundlicher Planet.“
„Als wir verschwanden“ von Johanna Wolfmann, S. 427.
Während sich die Geschichte langsam entwickelt und Anna und später auch ihre neuen Begleiter alle möglichen Erklärungen für die Katastrophe anführen, wird es philosophisch. Eine ganze Bandbreite von gesellschaftlichen Problemen steht zur Debatte, allen voran unsere Umweltprobleme, aber auch soziale Ungleichheit.
Lange Zeit war mir nicht klar, welche Begründung die Autorin anführen würde. Ich will nicht zu viel verraten, aber natürlich ist es eine fantastische. Aber nicht diese Begründung und auch nicht die radikale Utopie sind für mich das Entscheidende an dem Roman, sondern die vielen wichtigen Gedanken, die darin stecken. Sie betreffen uns und unsere Gegenwart: Warum handeln wir Menschen so, wie wir es tun? Was können wir tun, um unseren Planeten zu erhalten? Haben wir überhaupt eine Chance? „Als wir verschwanden“ ist nicht immer eine einfache Lektüre, wird aber auch nie langweilig.
„Was kann ein Einzelner schon ausrichten? Wir ließen uns lieber unterhalten durch ‚Vikings‘, ‚Breaking Bad‘, ‚Stranger Things‘ und ‚The Walking Dead‘ – Geschichten von Helden, die wir nicht waren. Diese Helden sind nun mit uns untergegangen, weil wir vergessen haben, wie man für das Richtige kämpft. Das Richtige ist immer das Leben, die Liebe und die Güte.“
„Als wir verschwanden“ von Johanna Wolfmann, S. 472.
Den Stil des Buchs würde ich als experimentell einstufen – die Handlung folgt keiner gängigen Dramaturgie, im Schlussteil wechselt der Stil und erotische Szenen samt einer tabuisierten sexuellen Neigung werden mit Endzeitstimmung gemischt. Bemerkenswert und wunderbar kreativ fand ich zum Schluss das Interview-Gespräch zwischen der Hauptperson Anna Berger und der Autorin Johanna Wolfmann, das auch solche Themen anspricht.
Die Autorin gibt keine Antwort vor, sondern überlässt uns das denken. Für mich hatte das die Konsequenz, noch ein bisschen mehr Geld für Umwelt- und Sozialprojekte zu spenden…
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